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                     Finanzamt Prag 7 zu fotografieren, das nach seiner Aussage bis zum Zwei­ des Zuges! In knapp zwei Stunden entstanden einige meiner schönsten
                     ten Weltkrieg auch ein Gebäude der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt  Bilder. War es aber jetzt nicht zu spät für meinen Zug? Ich hatte den
                     war. Die Amtsatmosphäre des Hauses mit den langen Fluren und unzäh-     Satz des Schutzmanns aus der gleichnamigen Parabel Kafkas im Ohr:
                     ligen «Bureaus» lässt jene in der langjährigen Arbeitsstätte Kafkas, in der   «Gibs auf!». Die Bahnhofsuhr zeigte mir, dass ich alle Hoffnung fahren
                     nach Umbauten heute ein Hotel untergebracht ist, zumindest erahnen.     lassen musste. Doch, o Wunder, mein Zug hatte Verspätung!
                     Leider war das Fotografieren im Kino «Lucerna» nicht möglich. Schade –   So schloss sich der Kreis: Bei der Abreise in Langenau ein ausgefallener
                     war Kafka doch ein begeisterter Kinogänger, wovon Hanns Zischler in     Zug, der mich fast daran gehindert hatte, meine Reise planmäßig anzu-
                     seinem Buch Kafka geht ins Kino eindrücklich erzählt.                   treten, und jetzt der verspätete Zug, der es mir ermöglichte, doch noch
                     Die restlichen Tage waren abermals geprägt vom Besuch historischer Knei-  die geplante Heimreise anzutreten, und das mit einer Bilderfülle, wie ich
                     pen und Kaffeehäuser, vom Schlendern durch Straßen und Gassen abseits   sie mir niemals erträumt hätte.
                     des Stadtzentrums. Ein Spaziergang über den Laurenziberg – neben den
                     Chotekschen Anlagen einer von Kafkas Lieblingsorten in Prag – und ein   Ein Ziel stand allerdings noch aus: Zürau, tschechisch Sirˇem, das Dorf,
                     Abstecher zur Hungermauer schlossen die sehr produktive Zeit ab.        in dem Kafka bei seine Schwester Ottla in den Jahren 1917 und 1918
                     Die Koffer waren an meinem Abreisetag schon gepackt, und ich wollte     Erholung von seiner Tuberkuloseerkrankung suchte. Es war auch der Ort,
                     noch einmal durch die Altstadt flanieren und dann zügig in Richtung     wo er sein beeindruckendes Aphorismenprojekt begann (wobei der Buch-
                     Bahnhof aufbrechen. Wäre da nicht plötzlich eine unvorstellbar schöne   titel Zürauer Aphorismen nicht von Kafka selbst, sondern von Max Brod
                     Stimmung entstanden! Nebel stieg von der Moldau auf und hüllte die      stammt). Und Paul Ingendaay schrieb im September 2019 in der Frank-
                     Stadt in diffuses Licht, in eine mystische Aura – was für ein Geschenk!   furter Allgemeinen Zeitung: «Für den Schriftsteller Reiner Stach, der Kafka
                     Also zog ich nochmals mit der Kamera los. Welcher leidenschaftliche     die grundlegende dreibändige Biographie gewidmet hat, ist Zürau bis
                     Fotograf denkt in solchen Glücksmomenten an die nahende Abfahrt         heute der Ort mit der stärksten Kafka-Aura geblieben. Viel spricht dafür,








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