Page 92 - kafkas-kosmos
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Nicht erst 1917, auch schon in den Jahren davor finden sich in Kafkas Michael Maar fasst es in seinem Essay Opferkrüge für die Leoparden in die
Oktavheften, seinen in Tagebüchern und Briefen prägnante Sentenzen, Worte: «Es gibt hunderte von Stellen, die man so oder so lesen kann –
Stimmungs- und Gedankenbilder, Zeugnisse einer schonungslosen Welt- als Chiffre für etwas genau zu bezeichnendes oder als dunkle Blüte eines
und Selbstbefragung, die die Zürauer Meditationen in Kafkas Kosmos Geheimnisses. Jedesmal, wenn man Kafka aufschlägt und in den Bann
ebenso ergänzen wie vier Prosaminiaturen aus der Frühzeit des Autors. seiner Prosa gerät, deren Prägnanz und Reinheit unerreicht sind, drängt
Zerstreutes Hinausschaun und Die Abweisung erschienen im März 1908 in der sich aber ein ganz anderer Verdacht auf. Vielleicht war dieser Mann nicht
Zweimonatsschrift Hyperion unter acht Kurzprosastücken, von denen Rätsel und nicht Geheimnis, sondern ein Wunder.»
Letzteres vom Autor schon im Oktober 1907 einem Brief an Hedwig Was Kafkas Werk, das literarische wie das außerliterarische, auch
Weiler beigelegt worden war. Beide Miniaturen wurden wie auch Das hundert Jahre nach dem Tod des Dichters so berückend gegenwärtig macht,
Gassenfenster und Die Vorüberlaufenden in den Band Betrachtung (1912) auf- ist, dass es bei größter sprachlicher und gedanklicher Luzidität nicht
genommen. Es sind keine Erzähltexte im engeren Sinne, sondern parabel- im Erklärbaren aufgeht. Vom Reiz des Rätselhaften, Geheimnisvollen,
hafte Szenenbilder, Reflexionen eines einsamen, distanzierten Ichs. Der Wunderbaren ist auch dieser Bildband erfüllt, einerlei ob man sich nun
Erkenntniswert von Parabeln ist normalerweise dadurch verbürgt, dass sie betrachtend in die Ästhetik der SchwarzWeißFotografien versenken will
aufgehen. Lessings Ringparabel etwa überführt die religiöse Toleranzbot- oder ob man sich mittels der Text-Bild-Korrespondenzen zum genauen
schaft der Aufklärung in ein fassliches Gedankenbild. Kafkas Parabeln Lesen, Wiederlesen und Meditieren anregen lassen möchte.
gehen nie auf. Jede Anwort führt bei ihm noch tiefer ins Labyrinth der
Fragen. Aus seinen Vexierbildern lässt sich weder eine Aussage noch eine Horst Lauinger
Weltanschauung herauslesen. Wer Aufklärung oder Unterweisung,
Beruhigung oder Halt sucht, ist bei diesem existentiellen Agnostiker fehl
am Platz. Sein Metier ist die Negation vermeintlicher Gewissheiten.
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