Page 90 - kafkas-kosmos
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                     Editorische Notiz










                     Die Vorstellung von der unendlichen Weite und Fülle des Kosmos ist das Ergebnis der zum Äußersten getriebenen
                     Mischung von mühevoller Schöpfung und freier Selbstbesinnung. (NSF II, 84)

                     Ihr sollt euch kein Bild –. (NSF II, 360)




                     Kafkas Kosmos liegt die Idee zugrunde, die Lebens- und Gedankenwelt des   Reminiszenzen in Sepia – als Duotone-Farbe für die Schwarz-Weiß-
                     Prager Weltdichters mit den Mitteln künstlerischer Schwarz-Weiß-Foto-   Fotografien von Helmut Schlaiß wurde konsequenterweise kein warmer
                     grafie zu reflektieren. Die Spurensuche von Helmut Schlaiß führt in die   Rotton, sondern ein kühles Stahlblau ausgewählt. Kafkas Kosmos ist jedoch
                     Gassen und auf die Plätze der Prager Altstadt, zum Geburtshaus, zum     ebenso wenig ein fotografisches Dokumentationsprojekt, in dem der
                     Gymnasium und zu Wohnhäusern Franz Kafkas, in Durchgänge, histo-        Reihe nach Lebens- und Wirkstätten gezeigt werden. Solche doku men-
                     rische Kaffeehäuser und Kinos, in Parkanlagen, auf den Alten Jüdischen   tarischen Fotobücher zu Kafka gibt es bereits zur Genüge. Kafkas Kosmos
                     Friedhof und zur Moldau, aber auch hinaus aufs Land, nach Zürau, und    hingegen erschöpft sich nicht in der Bebilderung eines Dichterlebens.
                     aus der sichtbaren Welt unversehens hinein in die imaginierte: von den   Wenn im vorliegenden Band Originalschauplätze aus Kafkas Vita zu
                     äußeren zu den inneren Topoi. Die Text-Bild-Korrespondenzen, bei denen  sehen sind, so nicht aus biografischem Interesse, sondern als Teil einer
                     Originalzitate und Fotografien nicht in einem illustrativen, sondern in   fotoästhetischen Erkundung seiner Lebens- und Gedankenwelten, wobei
                     einem assoziativen Verhältnis zueinander stehen, ermöglichen die        Innen- und Außenperspektive, Physisches und Metaphysisches, Tag- und
                     Begegnung mit zentralen Motiven in Werk und Leben des Schriftstellers.  Nacht- sowie Stadt- und Dorfansichten einander ergänzen.
                     Unter Verweis auf die im 20. Jahrhundert untergegangene Welt beschließt
                     Reiner Stach den dritten Band seiner beeindruckenden Kafka­Biografie    Die für die Kompositionen ausgewählten Originalzitate Franz Kafkas
                     mit den Worten: «Hätte Kafka das doppelte Glück erfahren, zunächst der  stammen aus gut fünfzehn Jahren: von Mai 1907 – ein Brief an Max Brod
                     Tuberkulose und dann auch dem Lager zu entkommen – er hätte nach        datiert daher (S. 58) –, bis Oktober 1923, als der Dichter, inzwischen
                     dem Ende dieser zivilisatorischen Katastrophe nichts mehr wiedererkannt.  Wahlberliner, Elli Hermann seine «Liebesgeschichte» (S. 89) schildert.
                     Seine Welt gibt es nicht mehr. Nur seine Sprache lebt.» Kafkas Kosmos ist   In diesen fünfzehn Jahren entstanden sowohl die großen Erzählungen –
                     kein Nostalgie-Projekt, will nicht die Welt von gestern vorspiegeln, als   Das Urteil und Die Verwandlung (1912), In der Strafkolonie (1914), Beim Bau
                     würde diese noch existieren. Kafkas Kosmos bietet keine patinierten     der Chinesischen Mauer (1917) oder Ein Hungerkünstler (1922) – als auch die








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