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schon eine Straßenbahn durchs Bild fahren sollte, dann wenigstens eine der Eltern von ihm und seinen Schwestern zur Aufführung gebracht
der alten Garnituren, von denen einige noch heute in Prag unterwegs wurden. Eine dieser Gelegenheitsdichtungen habe sich auf «die auf dem
sind. Vor allem aber sollten kaum Menschen zu sehen sein, und schon gar Trumeau stehenden Familienphotos» bezogen. Er hat sie Photographien
keine, die in der gegenwärtigen Mode gekleidet sind. Weshalb sich reden genannt.
Helmut Schlaiß am liebsten nachts auf den Weg gemacht hat oder in den Obwohl Helmut Schlaiß all diese Originalschauplätze aufsuchte, ver-
sehr frühen Morgenstunden. Dennoch hatte er die Karlsbrücke erst beim folgte er keine dokumentarische Mission. Es ging ihm eben nicht um
vierten Anlauf für sich allein. eine nostalgische Rückschau oder gar um die Wiederbelebung einer
Kafka selbst hat nie eine Fotokamera besessen und nur gelegentlich, etwa längst verlorenen Welt, die bloß äußerlich den Eindruck erweckt, noch
auf Urlaubsreisen, mit geliehenen Apparaten von Freunden fotografiert. die alte zu sein. Und so kann er seine Leica auch auf moderne Kunst
Schöpferisch produktiv wurde er im Medium der Fotografie nicht, aber er richten: auf das Jan-Palach-Denkmal im Park vor der Kunstgewerbeschule,
war fasziniert von ihrer Aura und den Irritationen, vor die der penible auf die Silberskulptur des heiligen Adalbert im Veitsdom oder auf die
Betrachter gestellt wird. Gleich dutzendweise ließ er sich Porträts von Skulptur einer ins Riesenhafte vergrößerten Fliege, an die Fassade eines
seinen Briefpartnerinnen schicken und schreibt in einem Brief nach ein- Hauses geschraubt. «Kein Käfer, ich weiß», sagt Helmut Schlaiß und
gehender Betrachtung: «daß dieses Bildchen so unerschöpflich ist, das zuckt mit den Schultern. Trotzdem habe er an Gregor Samsa denken
ist freilich ebensoviel Freude wie Leid. Es vergeht nicht, es löst sich nicht müssen.
auf wie Lebendiges, dafür aber bleibt es wieder für immer erhalten und Dreimal ist Helmut Schlaiß für sein Projekt nach Prag und ins böhmi sche
ein dauerhafter Trost, es will mich nicht durchdringen, aber es verläßt Land gereist. Und jedes Mal hat er sich zuvor noch intensiver mit Kafkas
mich nicht.» Tagebüchern und Aphorismen beschäftigt, hat Biografien gelesen und
Und Max Brod berichtet in seiner KafkaBiografie, der Schriftsteller habe sich die Romane als Hörbuch vorgespielt, um sich einzufühlen in das
in seiner Jugend kleine Theaterstücke verfasst, die zu den Geburtstagen Denken des Schriftstellers. Überrascht hat ihn dabei, welch menschliche
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